Mein Hölderlin
Mein Hölderlin beginnt am 11. September 1806, weinend, in einer Kutsche von Homburg nach Tübingen. Gegen seinen Willen, unter Lügen und gewaltsam wird er verbracht. Die Hälfte seines Lebens und fast alle seine Schriften hinter sich, vor sich den Knebel der Irrenanstalt und um sich ab dem 4. Mai 1807 seinen Turm beim Schreiner Zimmer. Wer und was ihn zu entfernen suchte, es war gründlich aber nicht tödlich. Jahrzehnte später noch gibt er sich andere Namen und zernichtet jeden ihm suspekten Kontakt mit unterthänigster Herauswerfung. Er kennt keinen kaum und alle gar nicht mehr, er ist niemand gewesen und viele auch, es ist nichts, wird nichts geschehen, ihm nicht und niemandem, alles ist und war seit immer schon in Ordnung.
Er ist kirre, sagen die Kinder. Hölderlins erinnernde Empfindungen im Turm sind mir Grund, seine Gedanken vor dem Turm in fassbare, lebhafte und sprechende Gedichte zu wandeln. Klassische Rezitation ist nicht der grösste Teil dieses Programmes, Sekundäres und Pausen gehören mindestens gleichenteils dazu.
Mehr als nur Gedichte lesen und hören, ob in der Schule, alleine oder in Theatern. Auf die Handschriften schauen, ein Leben mit Texten kennen lernen, die vielschichtigen ästhetischen Gebäude, Poesie und Einzelheiten, Vorbilder, Zeitgenossen, Anekdoten und Ungewisses.
Wer sich nicht mit dem tanzenden Gott auskennt, seiner Entstehung, Geschichte und Wirkung, weiß auch nicht, daß Jesus für Schelling, Hegel, Novalis oder Hölderlin nur eine dionysische Reinkarnation ist; Dionysos ist dabei immer der „kommende Gott“.
Und der Himmel wird wie eines Mahlers Haus
Wenn seine Gemählde sind aufgestellt
Ein Dichter zeigt sich wie noch nie in seiner Werkstatt. Sämtliche erhaltene Manuscripte Hölderlins, ihre Umschriften, Bearbeitungen,viele Ergänzungen, Verweise, Reinschriften und Drucke sind freigelegt zur Beschau. Über 200 Jahre ist sie alt, diese Denkwerkstatt und nach kurzer Weile jetzt wird aus der Antike das Vorbild und aus der Revolution das Vaterländische. Hölderlins Gesänge sind mit ganz anderen Ohren zu hören als mit den zwei Wascheln alleine. Da schwingt die Seele, da schreitet der Ton, der bevestigte Gesang, und endlich wird’s gar nicht mehr schwierig, aber einfach und deutlich und schön; buchstabengetreu und allbarmherzig. Mein Hölderlin setzt da an, wo eine traditionelle Rezitation aufhört. In beredter Stille, im Zwischenraum des zyklisch, spiralig sich gegensetztendem Gespräch, im Gedanken-Gesang, in der Komposition, im Kompost des Unvereinbaren, da wo er sich selbst als vom Göttertisch zurückgeworfen sieht, da wo ihm nichts mehr hilft ausser der radikalen Flucht, da wo Rettung wächst aus der Gefahr, hier, jetzt, wir.
Hölderlin, scheitern, irdisch; er konnte nicht ganz machen, dies All in Einem. Liebesglück, öffentliche Anerkennung, Heimat und politische Geborgenheit blieben ihm versagt; philosophische Gegenüber und spirituelle Weggefährten, Freunde, Hilfe von außen, in entscheidenen Momenten waren sie nicht auf seiner Seite. Hölderlins Scheitern aber macht sein Werk nicht rund. Und das ist nicht verrückt sondern zugehörig. Was immer entsteht, erscheint und erglänzt aus sich selbst.
Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.