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DER RHYTHMUS UND DIE KÜNSTE.
NEUHOCHDEUTSCHE METRIK. EIN- HANDBUCH VON D R J. MINOR. (in Auszügen)
Unter der Metrik verstehen wir mit Westphal die Lehre von denjenigen rhythmischen Formen, die in der Dichtkunst zur Erscheinung kommen.
Denn nicht die Dichtkunst allein bedient sich des Rhythmus. Schon die alten Griechen pflegten die Künste in bildende und in musische zu unterscheiden. Die bildenden Künste (Malerei, Architektur, Plastik) stellen sich unmittelbar und als fertiges Product, ruhend im Raume, dar; ihre Schönheit beruht auf der formalen Ordnung des unbewegten Raumes, auf der Symmetrie. Die musischen Künste dagegen beruhen auf der formalen Ordnung der bewegten Zeit, auf dem Rhythmus. Sie stellen sich aber nicht unmittelbar selbst dar, sondern sie werden erst von der Mittelsperson eines vortragenden Tänzers, Sängers oder Schauspielers durch Bewegung im Verlauf der Zeit reproduziert.
Die musischen Künste unterscheiden sich wieder, je nachdem sie durch sichtbare Bewegungen der Körper auf das Auge (Tanz) oder durch hörbare Bewegung der Luft (Töne) auf das Gehör wirken. Sind die Töne unarticuliert, so entsteht die Musik; sind sie articuliert, so entsteht die Poesie. Aber alle drei Künste waren ursprünglich eine; heute noch ist der Tanz mit der Musik unlösbar verbunden. Die Poesie hat sich freigemacht, erscheint aber in der Lyrik und im Drama immer noch gern Hand in Hand mit einer der beiden Schwestern oder gar im alten Dreibund. Das Band, das die drei Künste auch heute noch vereinigt, ist der Rhythmus, das Gleichmass der Bewegung.
Musik und Poesie beruhen beide auf rhythmischen Tönen. Aber in der Musik kommt ausser dem Rhythmus noch die Höhe und Tiefe der Töne (Melodie) und ihr Zusammenklang (Harmonie) in Betracht; in der Poesie steht über dem rhythmischen Werth der Töne die geistige Bedeutung der Worte. Die Musik ist immer und überall an den Rhythmus geknüpft, mit dem auch die Poesie in den ältesten Zeiten untrennbar verbunden ist. Aber der Satz Wilhelm Schlegels: „keine Poesie ohne Silbenmass“ entspricht nicht der Erfahrung. Die Geschichte der Dichtung lehrt vielmehr, dass gerade in hochentwickelten Literaturen eine Verwischung der Grenzen zwischen Poesie und Prosa eintritt: es entsteht eine unrhythmische Poesie (im Roman und im Drama) und umgekehrt eine rhythmische Prosa (in Goethes Weimarischen Dichtungen; bei Hölderlin. Jean Paul, Hülsen und anderes Romantikern).
Und auch die Beobachtung der metrischen Kunst zeigt deutlich diesen Entwicklungsgang. Sie steht in den älteren Zeiten, wo Dichten mit Versemachen gleichbedeutend war und wo es mehr von dem Rhythmus als von dem Inhalt abhing, ob ein Product als Poesie oder als Prosa galt, der Musik näher und schaltete freier mit den Worten, die für sie wie für die Musik blosse Töne waren, zum Vortrag durch den Gesang bestimmt. Je höher aber die Dichtung entwickelt ist, umsomehr Gewicht legt sie auf den Sinn und auf den Gedanken, umsomehr hat sie den Wortaccent und die Satzbetonung zu berücksichtigen. Der Dichter und der Vortragende sind hier weniger frei. Die Verse sind rhythmisch unvollkommener und werden weniger nach dem Rhythmus als nach dem Sinn vorgetragen : sie sind eben darum metrisch vollkommener. Denn alle metrischen Erscheinungen beruhen auf einem Ausgleich zwischen den musikalischen Anforderungen des Rhythmus und den Anforderungen des Sinnes, und die vollkommenste Verskunst ist nicht die, welche die stärkste musikalische Wirkung wenn auch auf Kosten des Sinnes erzielt, sondern diejenige, welche den Gedanken am innigsten mit dem Rhythmus vermählt.
VERHÄLTNIS DES DEUTSCHEN VERSES ZUM ANTIKEN.
Der Hauptunterschied zwischen dem antiken und
dem deutschen Verse aber besteht darin, dass bei den Alten
der Versaccent gegenüber dem Wortaccent frei ist, während
bei den Deutschen das Zusammentreffen beider gefordert wird.
NEUHOCHDEUTSCHE METRIK. EIN- HANDBUCH VON D R J. MINOR. 0. Ö. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT WIEN. STRASSBURG. VERLAG VON KARL J. TRÜBNER. 1893. C. Otto’s Hofbuchdruckerei in Darmstadt.
https://archive.org/stream/neuhochdeutschem00minouoft/neuhochdeutschem00minouoft_djvu.txt
abgerufen 25-07-2018