Zahn um Zahn mit Kurt Hübner

Nach 10 Jahren im freien Theater suchte ich 1991, was ich direkt nach der Schauspielschule gemieden hatte: die Provinz. Ich ging Vorsprechen.

Meine Agentur schickte mich nach Berlin, man suchte einen Lancelot Gobbo, Fürs Kleine Theater in Bad-Godesberg unter Walter Ulrich, Regie: Kurt Hübner.

Bad-Godesberg fand ich super, da wurde ich geboren, Hübner fand ich super, der Mann hat Ahnung, Walter Ulrich war mir unwichtig. (Fehleinschätzung).

Die Rolle wollte ich wirklich haben. Ich ging nach Berlin zum Hübner. Und nach einer sehr amüsanten Stunde Vorsprechen hörte ich diese wunderschönen Worte: ‚Schicken Sie doch bitte alle nach Hause und rufen Sie den Ulrich an. Wir können proben, wir haben einen Lancelot.‘

Die Probenzeit entwickelte sich zum interessantesten und schönsten Theatererlebnis bis dahin.

Kurt Hübner, 75 Jahre jung, saß kerzengerade auf seinem Stuhl, nie angelehnt, nie indisponiert, jederzeit mit Adleraugen und scharfen Kommentaren versehen, immer menschenfreundlich und immer aufs erklärte Ziel fixiert. Er forderte und schaute, frug und ließ wiederholen. Und er bekam was er suchte. Es war sein fünfter Kaufmann von Venedig und wie er sagte, er hatte zum ersten Male das Ende geknackt. Eine Ohrfeige von Portia ins Gesicht des Bassiano war Krönung und Lösung des Spiels.

Generalprobe war morgens um 10 Uhr angesetzt, Premiere am selben Tag abends, mit Bonner Prominenz, Theater-Schicki-Micki und dem Ehrengast Richard von Weizsäcker. Und dann gings total daneben bei mir.

Am Abend vor der Generalprobe begannen grauenhafte Zahnschmerzen im, am und um meinen Schneidezahn, also überall im Kopf, daß ich wirklich nicht mehr weiter wußte. War aber alleine. Idee der Not: da ist noch Whisky, trink Brüderchen, dann kannst du schlafen. Aber nachdem die zu 3/4 gefüllte Flasche 100% leer war, waren die Schmerzen noch da und an Schlaf nicht zu denken. Morgens um 8 Uhr rufe ich meinen Zahnarzt an, ja ich muß sofort kommen, nein, morgen ist zu spät; JETZT!!

Dann das Theater anrufen, Generalprobe verschieben, Angstschweiß mischt sich mit noch aktiven Rest-Whisky und Schmerz Schmerz Schmerz. Na Bravo, das Theater ruft. Der Zahn kracht raus, er stinkt unglaublich. Dann zur Probe. Ich bin nicht mehr Ichselbst. Spiele lustlos, in Trance, Blut um die Lücke im Maul, scheißegal, hauptsache irgendwie und irgendwas. Meine Ausbildung, meine Erfahrung, meine sensible Seite, Professionalität, Körpergedächtnis, Stimmbeherrschung, Proben… alles weg. Generalprobe beendet, ich ein Haufen Nix, Kollegen kümmern sich, alles ist dämlich-schwämlich. Kommt der Hübner zu mir, lächelt glücklich und sagt: ‚Das war Weltklasse. Sensationell. Schade, daß du nicht zu jeder Vorstellung einen Zahn rauswerfen kannst.‘ Tja, diese Generalprobe kann ich nicht wiederholen. Selbst wenn ich es wollte.

Und Richard von Weizsäcker? Er bekam jedemenge Spucke auf den Frack, aus dem Lückenmaul vom Gobbo. Weil er saß ja in der ersten Reihe Mitte.

Endlich doch. Theater, so wie ich es mag. Jetzt halt in der Provinz.

Kurt Hübner verstarb im August 2007, jammer.


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